1735-kapitel-03
Kurz bevor Lucella im Nest des Drachen erwachte.
Eine Stadt zu Füßen des Berges Kuguse – Kugutfulm.
Dort, im gemieteten Zimmer im zweiten Stock, das die Gruppe „Siebter Würfel“ als Basis ihrer Unternehmungen nutzte:
„S̲c̲h̲e̲i̲ß̲e̲! Am Ende haben wir den größten Schatz verloren.“
Gemel blickte missmutig auf den Beutel mit Goldmünzen vor sich.
Es war eine beachtliche Summe. Doch wäre alles nach Plan gelaufen, hätte dieser Beutel viermal so prall gefüllt sein müssen.
„Komm schon, sei nicht so. Wir haben doch jede Menge wertvolle Kräuter abgestaubt.“
„Oh ja, der Drachenberg macht seinem Namen alle Ehre.“
Im Gegensatz zu Gemel, der dem großen Fang hinterhertrauerte, zeigten sich die übrigen Mitglieder mit breiten Grinsen.
Kugutfulm war die dem Berg Kuguse am nächsten gelegene Stadt.
Sie florierte dank des Flusses, der vom Berg herabströmte, und durch ihre Landwirtschaft – und war zudem ein bekannter Kurort für heiße Quellen.
Doch der Berg Kuguse selbst war weitgehend unberührt geblieben. Obwohl Abenteurer sich sonst in jede Höhle und jede Ruine stürzten, hatte die hiesige Zweigstelle der Abenteurergilde den Zutritt zum Berg untersagt.
Der erste Grund war simpel – der Berg Kuguse war viel zu gefährlich. Der dort lebende rote Drache und die Horden von Monstern, die zu stärkeren Wesen „mutierten“, machten ihn zu einem Ort des Todes.
Ein weiterer Grund war, dass sowohl das Königreich Maltgartz im Norden als auch das südlich gelegene Setulev Anspruch auf den Berg erhoben. Da sich die Abenteurergilde prinzipiell aus politischen Angelegenheiten heraushielt, konnte sie sich bei einem Gebiet, das zu zwei Reichen zugleich gehörte, nicht eindeutig positionieren. Viele Konflikte aus dieser Situation wurden einfach vertagt – zumal beide Reiche selbst ein Betretungsverbot erlassen hatten.
Wie dem auch sei – so sehr der Ort als Sperrgebiet galt, war er doch eine wahre Schatzkammer an Ressourcen.
Gierige Wilderer wagten sich gelegentlich hinein – und fanden oft den Tod.
Die „Siebter Würfel“ war einer der wenigen Glücksfälle. Sie waren mit fünf Leuten hineingegangen, mit vier wieder herausgekommen – und hatten mit den geborgenen Ressourcen ordentlich Profit gemacht.
Es war eine Bande mit zweifelhaftem Ruf, die nicht selten durch unehrliche Methoden zu Geld kam.
Sie verstanden sich bestens darauf, Wertgegenstände in bares Geld umzuwandeln, ohne dass jemand ihre Herkunft zurückverfolgen konnte.
Das Ergebnis war dieser Beutel mit Münzen.
„Für so viel Geld nur einen Handlanger zu verlieren – das ist doch ein faires Geschäft, wenn du mich fragst.“
„Oh ja, das schon…“
Während sie mit zufriedenen Gesichtern sprachen, verzog selbst der riesenhafte Gemel das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
Doch plötzlich wurde er ernst.
„Hey… Wie hieß der Kerl nochmal?“
„Häh?“
„Jetzt komm schon, auch wenn er ein nutzloser Schmarotzer war – habt ihr echt seinen…“
Dann herrschte Stille.
Die „Siebter Würfel“ hatte einen Verwalter beschäftigt.
Ein Verwalter für Abenteurergruppen war eigentlich ein recht ungewöhnlicher Beruf. Doch „er“ war stets von Gruppe zu Gruppe gezogen und hatte sich angeboten.
Gemel hatte „ihn“ ursprünglich nur eingestellt, weil er jemanden brauchte, der das gemietete Hauptquartier sauber hielt.
„Er“ arbeitete fleißig.
Er nannte sich selbst Verwalter – und übernahm neben dem Haushalt auch den Papierkram bei der Gilde.
Gemel hatte „ihn“ dafür mit einem entsprechenden Lohn abgespeist – nicht viel mehr als das, was man einem Hausknecht gab.
Doch was ihn irgendwann zur Weißglut trieb, war, dass „er“ begann, sich in ihre Abenteurerangelegenheiten einzumischen. Ständig sagte er Dinge wie „Das ist zu gefährlich“ oder „Lasst das lieber sein“, ließ gewinnbringende Chancen verstreichen und brachte stattdessen nervtötende Aufträge an – die Gemel dann selbst ablehnen musste. „Er“ recherchierte sogar über die Monster, die sie antreffen würden, und schwafelte stolz über nutzloses Wissen, das im Kampf keinen Wert hatte – Gemel hätte ihm dafür am liebsten das Maul gestopft.
„Er“ konnte weder kämpfen noch zaubern.
Aber Gemel glaubte, dass „er“ sich für einen vollwertigen Abenteurer hielt, nur weil er mit Spitzenleuten wie Gemel selbst reiste – also verpasste er ihm den Spitznamen „Parasit“.
So ein Parasit war freiwillig mit auf den Berg Kuguse gekommen – und wurde am Ende geopfert.
Gemel meinte, „er“ hätte sich damit zufriedengeben sollen, wenigstens am Schluss einmal wie ein Abenteurer gehandelt zu haben. Für ihn war „er“ Müll – und Gemel verspürte keinerlei Reue, ihn getötet zu haben.
Aber sein Name… fiel ihm beim besten Willen nicht mehr ein.
„Häh? Ich komm einfach nicht drauf.“
„Ich auch nicht…“
„Was zur H̲ö̲l̲l̲e̲? Der Name war doch eindeutig……hä?“
Ihre Gesichter erinnerten an Menschen mit Kater am Morgen danach.
Sie hatten im Laufe ihrer Abenteuer schon viele unheilvolle Dinge gesehen – aber das hier war auf ganz andere Weise unheimlich.
Ungeachtet der Umstände: Die „Siebter Würfel“ hatte über ein Jahr lang mit „ihm“ verbracht. Wie war es möglich, dass sie seinen Namen vergessen hatten?
„Wir haben doch seine Abenteurerkarte, oder?“
„O-Oh ja. Da müsste sein Name draufstehen…“
Gemel holte die silberne Platte aus dem Rucksack in der Ecke – die Abenteurerkarte, ausgestellt von der Gilde.
Sie enthielt den Namen des Trägers sowie Zahlenwerte, die man „Stats“ nannte. Fand man so eine Karte bei einem Skelett, konnte man damit die Identität klären.
In der Welt der Abenteurer waren diese „Stats“ ein gängiger Begriff.
Sie stellten die individuellen Fähigkeiten einer Person in Zahlen dar – basierend auf einer Technik zur Fähigkeitsberechnung, die aus der Ära einer untergegangenen Hochzivilisation stammte und dort wohl für eine Art Spiel verwendet wurde.
Die Abenteurerkarten der Gilde hatten diese Technik irgendwann übernommen. Sie zeigten die Fähigkeiten des Besitzers automatisch in numerischer Form an.
Dank dieser Stats konnte man bestimmte Talente objektiv erfassen – Lügen über die eigenen Fähigkeiten wurden unmöglich. Für Kunden, Verwaltung und auch das Selbstbewusstsein der Abenteurer war das von großem Nutzen.
Allerdings wurde auch kritisiert, dass dadurch Fähigkeiten abgewertet wurden, die sich nicht in Zahlen fassen ließen…
Und nun zeigte genau so eine Abenteurerkarte etwas höchst Seltsames:
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Name: ■■■■■
Stufe 3
HP 27/27
MP 0/0
ST 0/60
STR 10
MAG 0
AGI 11
DEX 10
VIT 11
RES 14
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„Sein“ Name hätte in rußfarbenen Buchstaben dort stehen müssen.
Doch er war verschwunden – als hätte jemand ihn übermalt.
„Wieso hat er noch HP? Müsste das nicht auf 0 sein, wenn er tot ist?“
„Warte, wichtiger – sein Name… Ist das nicht verdammt seltsam? Was geht hier vor?“
Alle Vier starrten auf die Abenteurerkarte – und hielten den Atem an.
„Das Ding ist doch irgendein Relikt aus alter Zeit, oder? Wer weiß schon, wie genau das funktioniert – vielleicht ist es einfach kaputtgegangen…“
„So leicht gehen die aber nicht kaputt.“
Sie wollten seinen Namen nachsehen – aber die Karte war „defekt“. Was Gemel jedoch noch mehr störte, war der HP-Wert.
HP stand für die Lebenskraft eines Menschen. Verletzungen senkten den Wert – und 0 bedeutete den Tod.
Gemel war sich sicher, dass er „ihn“ erstochen hatte. Zwar hatte er den Gnadenstoß bewusst unterlassen, um ihn als Köder attraktiver zu machen – doch „er“ war dem Tod näher als dem Leben gewesen. Er hätte sterben müssen.
„Hatte der W̲i̲c̲h̲s̲e̲r̲ etwa einen Heiltrank bei sich?“
„W-Was machen wir jetzt?! Wenn der B̲a̲s̲t̲a̲r̲d̲ noch lebt, sind wir geliefert…!“
„Reißt euch zusammen, verdammt nochmal! Habt ihr vergessen, wo wir ihn zurückgelassen haben?!“
Gemel brüllte, um die aufgebrachten Mitglieder zu beruhigen.
„Selbst wenn er’s überlebt hat, landet er entweder im Magen eines Monsters oder des Drachen. Wenn er noch lebt, dann versteckt er sich irgendwo – aber am Ende wird er verhungern. Wir beobachten einfach die HP-Anzeige. Sobald sie bei null ist, können wir endlich auf unseren Profit anstoßen.“